Auf den Spuren der Höchster Juden

Vor der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 lebten in Höchst rund 200 Bürger jüdischer Abstammung. Sie handelten mit Schuhen oder Fleisch, gründeten das erste moderne Kaufhaus, spendeten reichlich, praktizierten als Ärzte und schickten ihre Kinder auf die Leibnizschule. Dann trieben systematische Ausgrenzung und Enteignung rund 100 von ihnen zur Emigration und Flucht, die anderen 100 wurden umgebracht. Die Höchsterin Waltraud Beck recherchiert und dokumentiert seit Jahrzehnten ihre Geschichte und führte jetzt Schüler und Schülerinnen der Leibnizschule zu Orten in Höchst, an denen die Juden der Stadt lebten und arbeiteten, an denen sie verhaftet aber in einzelnen Fällen auch verteidigt, geschützt und versteckt wurden. Philipp Siegler aus der Journalismus-AG berichtet über den Rundgang im Rahmen des Jubiläumsjahr-Projekts “Nachspü/uren”.

Der Rentner Moses Friesem, Ältester der Jüdischen Gemeinde in Höchst, geht täglich spazieren und trifft sich mit anderen älteren Männern auf einer Parkbank. Seit neuestem steht auf Bänken ‘Nur für Arier` deshalb läuft er an seinen Freunden vorbei. „Ei guude Moses! Warum setzt du dich denn net hie?“, fragt ein Freund.  Moses Friesem antwortet: „Ihr wisst doch, dass ich en Judd bin und mich da net mehr hiesetze derf“. Der Freund  rückt beiseite und ein anderer sagt: „Mach kaa Geschiss un hock dich her – Arsch is schließlich Arsch.“
Als Waltraud Beck den Schülern des Wahlunterrichts Kunst der Neunten Jahrgangsstufe diese Anekdote erzählt, lachen einige laut auf, doch ansonsten gibt es an diesem regnerischen Tag wenig zu lachen. Denn auf dieser Führung durch Höchst möchte sie den Neuntklässlern etwas über die schreckliche Verfolgung von Juden durch die Nationalsozialisten in den 1930er und 1940er Jahren erzählen.
Die Führung startet an der Nordseite des Höchster Bahnhofs, begleitet von Kunstlehrerin Andrea Mihm und der Künstlerin Leonore Poth. Es geht zu einem Haus, in dem sich früher das Futter- und Kartoffelgeschäft eines jüdischen Händlers befunden hat. Einen Steinwurf weiter, in der Leverkuser Straße, wohnten Else Frank geb. Levi, nebst Kallmann und Rosa Levi sowie ihr Vater Moses Friesem. Sie wurden alle drei deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. Ähnlich erging es Else Frank mit ihrem Ehemann und ihren kleinen Kindern. An sie erinnern heute drei so genannte Stolpersteine, die im Bürgersteig vor dem Haus Nr. 9 verlegt sind.
Stolpersteine sind messingfarbene, vom Kölner Künstler Gunter Demnig verlegte Gedenksteine, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Meist liegen sie im Gehweg vor dem Haus der Ermordeten. Allein in Höchst wurden 34 Stolpersteine verlegt.
Der kleine Tross läuft weiter zum ehemaligen Standort der Höchster Synagoge, dem Ettinghausenplatz, am Rand des Höchster Marktes. Auf den ersten Blick sieht der Platz aus, als wäre er einfach durch Zufall entstanden und nicht, als hätte hier früher ein jüdisches Gotteshaus gestanden. Am 10. November 1938, um 4 Uhr morgens, wurde in der Synagoge Feuer gelegt. Das war nur das erste Mal in dieser Nacht. Die Feuerwehr rückte an – doch zum Entsetzen der gespannt zuhörenden Neuntklässler bewahrte sie nur die umliegenden Häuser vor dem Übergreifen der Flammen auf das jüdische Gebetshaus, erzählt Waltraud Beck. Danach wird es immer wieder angezündet. Als Moses Friesem versucht, mehrere wichtige Gegenstände aus der brennenden Synagoge zu retten, wird er von damaligen Schülern des Leibniz-Gymnasiums mit Steinen beworfen und bespuckt. Waltraud Beck weiß, dass eine Thora-Rolle, also eine hebräische Bibel, nachts dem letzten Gemeindevorsteher, Berthold Ettinghausen gebracht werden konnte, der sie bei seiner Emigration in die USA mitnahm.
Während Waltraud Beck erzählt, stehen die Schüler jedoch nicht einfach herum, sondern sind bereits daran, die Stolpersteine mit einem Bleistift in der so genannten Frottage-Technik auf Papier zu bringen. Dazu legen sie das Papier auf den zu „kopierenden“ Gegenstand und schraffieren mit einem weichen Bleistift über das Blatt – das Relief bildet sich ab. Die Zeichnungen werden Teil eines Kunstwerks zum Thema „Nachspü/uren“, das mit der Unterstützung von Leonore Poth von Woche zu Woche konkretere Gestalt annimmt.
Von der Synagoge sieht man heute nichts mehr, nur eine Computerrekonstruktion kann man mithilfe zweier fernrohrähnlicher Viewer ansehen. Doch das soll sich bald ändern, wünscht sich Waltraud Beck, die seit mehr als 25 Jahren für eine Umgestaltung des Platzes kämpft. Sie regt die Schüler an, sich doch über die Gestaltung Gedanken zu machen: “Was würde euch als Jugendliche denn auf so einem Platz interessieren?”, fragt sie in die Runde.
Es geht weiter zur Höchster Fußgängerzone, zu einem der vielen Geschäfte. Eines davon war das Schuhgeschäft Holzmann. Die Söhne Herbert und Walter besuchten die Leibnizschule. Hier kann Waltraud Beck von einer Geste der Solidarität erzählen: “Ein Kunde kam in den Laden und sagte: ,Ich will heute keine Schuhe kaufen, aber ich hätte gerne ein Tüte – ich will zeigen, dass ich bei Ihnen kaufe.'” Kurze Zeit später wurde Herbert Holzmann ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert, wo ihm versuchshalber Tuberkulose-Bazillen gespritzt wurden. Beck: “Er hat zwar das Lager überlebt, hat sich aber nie mehr davon erholt.” Als er nach Jahrzehnten endlich bereit war, über alles zu sprechen, starb er in den USA.
Die letzte Station erinnert an einen Zeitzeugen, der trotz der Vertreibung der Juden heute noch regen und versöhnlichen Kontakt mit Höchst pflegt: Otto Schiff. Die Schüler stehen vor dem kleinen Einkaufszentrum an der Königsteiner Straße, an dessen Stelle damals das Kaufhaus Schiff stand. Die Eigentümer waren Paul und Karl Schiff, Paul war Ottos Vater. Die große Gedenkplatte im Bodenpflaster erinnert an das damals hochmoderne Kaufhaus. “Die hab’ ich noch nie gesehen”, gibt eine Schülerin zu, “obwohl ich so oft hier bin.”
Waltraud Beck berichtet von den innovativen Verkaufsideen der damaligen Besitzer, Paul und Karl Schiff: “Sie richteten einem Erfrischungsraum ein, in dem mein Vater gearbeitet hat, und organisierten Modenschauen.” Dazu spendeten sie reichlich für caritative Zwecke, gaben Kindern warmes Essen und verschenkten Spardosen in Form eines Schiffchens, von denen Beck sogar eines aus ihrer Tasche holt und vorzeigt. Das alles sollte die Familie Schiff aber nicht vor dem Hass der Nazis schützen. Immerhin erkannte sie rechtzeitg, dass etwas gewaltig schief lief und floh in die USA.
Zahlreiche Erinnerungsstücke an die ehemaligen jüdischen Bürger Höchsts und die sorgfältige Dokumentation ihrer Geschichte werden laut Waltraud Beck in wenigen Jahren einen Raum finden: Im Bolongaropalast soll ein jüdisches Museum entstehen und den vertriebenen Mitbürgern wieder ihren Platz in der Stadtgemeinschaft einräumen – und das nicht nur auf der Parkbank.

Folgende Schüler jüdischen Glaubens waren bis 1933 auf der Leibnizschule:

Otto Schiff
Felix Lewin
Manfred Marx
Herbert und Walter Holzmann
Albert und Herbert Baum
Paul und Karl Schiff

Quelle Anzahl Stolpersteine: https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2509333, abgerufen am 17.9.2017