Budapest im April 1944. Seit dem 19. März haben die deutschen Truppen Ungarn besetzt. Bereits seit 1938 benachteiligten Diskriminierungsgesetze die ungarischen Juden. Eva Szepesis Vater musste sein Geschäft auf der Hauptstraße schließen. “Aber als Kind hat man das nicht so realisiert”, meint sie. Doch eines Tages schickte Evas Mutter ihre Tochter mit der Tante auf die Reise, sie selbst wollte mit dem Bruder bald nachkommen. “Meine Mutter hat mich damals lange umarmt und mich sehr, sehr traurig angesehen”, erinnert sie sich. Es war die letzte Umarmung. Die Mutter und der jüngere Bruder sollten später in Auschwitz ermordet werden.
“Wann haben Sie verstanden, dass es wirklich ernst war?”, fragt eine Schülerin. “Als meine Mutter vor der Reise sagte, ich solle mich taubstumm stellen, um mich nicht zu verraten.” Sie marschierten zu Fuß elf Stunden lang über die slowakische Grenze, wollten weiter zu Verwandten. Einen Koffer durfte sie mitnehmen, darin lag die Lieblingspuppe Erika. Eines Nachts weckte ein deutscher Soldat das elfjährige Mädchen. Sie musste sich schnell anziehen. Die Puppe Erika blieb zurück.
Mal erzählt Eva Szepesi, mal liest sie mit ihrem leichten ungarischen Akzent Passagen aus ihrem Buch vor, in dem sie mehr als 50 Jahre nach Auschwitz das Erlebte festgehalten und veröffentlicht hat. “Ein Mädchen allein auf der Flucht” lautet der Titel.
Die Fahrt im Viehwaggong vom Sammellager Sered in der Westslowakei ins Lager nach Auschwitz hat sie nur schemenhaft in Erinnerung: Tränen, Urin, Erbrochenes, Gitterstäbe. Dann die Ankunft im Lager: “Ich spüre noch heute die kalte Schere auf der Kopfhaut, mit der mir meine langen Zöpfe abgeschnitten wurden”, liest sie vor. Dies sei einer der schlimmsten Momente gewesen. “Bis heute weiß ich nicht, warum eine der Aufseherinnen mir zuflüsterte, ich solle sagen, ich sei sechzehn.” Eva, völlig verängstigt, gehorchte. Der Hinweis wies das Mädchen als arbeitsfähig aus und rettete sie vor der Gaskammer. Ihr kleiner Bruder hatte dieses Glück nicht. Die Mutter begleitete ihn in den Tod im Gas. Doch das sollte Eva erst mehr als 70 Jahre später erfahren.
Damals erwarteten sie Monate des Hungers, der harten körperlichen Arbeit, der stundenlangen Appelle, während das “Deutsche Reich” an der Ostfront immer mehr Gebiete verlor und das Ende des Krieges heranrückte. Als die sowjetischen Truppen Auschwitz befreiten, lag Eva reglos auf ihrer Pritsche. Wer noch laufen konnte, den hatten die Aufseher auf Todesmärsche geschickt. “Mich hielten sie wohl für tot”, vermutet Eva Szepesi. Im Gegensatz zu rund 200 anderen Hälftlingen, die trotz Pflege an Entkräftung starben, überlebte Eva.
“Was hat Ihnen geholfen, mit Ihren Erfahrungen fertig zu werden?”, fragt später ein Schüler. “Ich wollte unbedingt ein eigenes Kind”, antwortet die zierliche alte Dame. Und als sie die Frage beantwortet, wo sie ihren Mann kennengelernt habe, lächelt sie. Ihre Zuhörer lächeln zaghaft mit, sie wirken erleichtert, dass nach so viel Leid auch wieder Freude ihren Platz hatte.
“Es war in Budapest in der U-Bahn”, berichtet Eva Szepesi. “Ich habe als Schneiderin Kleider am Bügel transportiert, wollte sie an eine Stange hängen, kam aber nicht dran. Da hat er mir geholfen. Er ist sogar weiter gefahren, als er eigentlich musste und ist dann mit mir ausgestiegen.” Heute hat sie Töchter und Enkelkinder, zeigt anschließend auf dem Ipad ein Video, in dem sie mit dem Enkel spielt und lächelt. Dennoch wirkt auf diesen Bildern ein Teil von ihr, als wäre er nicht ganz beteiligt an dem, was in der glücklichen Gegenwart passiert.
Damit lebt Eva Szepesi. Auch mit der Angst, sobald sie einen Mann im Mantel, mit Stiefeln und Hund sieht. “Dann wechsle ich die Straßenseite. Fünfzig Jahre lang habe ich überhaupt nicht darüber gesprochen, was ich erlebt habe”, erzählt sie weiter, während sie den Kindern, die es sehen wollen, ihren Unterarm mit der tätowierten Häftlingsnummer zeigt. Als der Regisseur Steven Spielberg 1995 für seinen Spielfilm “Schindlers Liste” Zeitzeugen in Auschwitz interviewen lässt, bricht sie ihr Schweigen. “Ich wollte nicht noch mal nach Auschwitz, aber meine Töchter haben mich überredet.” Erst bei einer weiteren Reise dorthin im Jahr 2015 entdeckt ihre Enkelin auf einer Tafel die Namen von Evas Mutter und ihrem Bruder. Auch sie waren dort umgekommen. “Erst in diesem Moment habe ich geglaubt, dass sie tot sind. Bis dahin habe ich immer noch gehofft, sie wiederzusehen.” Nun konnte sie trauern. Sie kehrte verändert nach Frankfurt zurück. Seitdem erzählt sie von damals in Schulen, Veranstaltungen, Lesungen und im Fernsehen.
Tief berührt ist Eva Szepesi, als ein Schüler der Leibnizschule, Tim Brunsberg, ihr eine Zeichnung überreicht. “Hier, das sind Sie”, erklärt Tim und zeigt auf ein Mädchen mit langen Zöpfen. Das Mädchen kommt aus einer unwirtlichen Landschaft nach Hause. Vor der Tür eine Blume als Zeichen der Hoffnung. Ein Bild in diesem Haus zeigt sogar eine noch blühendere Zukunft. “Du hast mir eine riesengroße Freude gemacht”, bedankt sich Eva Szepesi. Und als sie das sagt und dabei Tim anschaut, ist sie ganz da.
Nur sieben Jahre ihres Lebens waren wirklich unbeschwert. Heute ist Eva Szepesi 85 Jahre alt. Die gebürtige Ungarin jüdischer Abstammung lebte als Kind in Budapest. Im Alter von sieben Jahren musste sie auf einmal den Judenstern tragen, Freundinnen wollten nicht mehr mit ihr spielen, sie wurde beschimpft. Was sie anschließend durchlitten hat, hat sie zwar überlebt. Doch unbeschwert ist das Leben seitdem nie wieder gewesen. Im Rahmen des 175-jährigen Jubiläums der Leibnizschule und des Jahresprojekts “Nachspü/uren” besuchte sie die Schule und erzählte ihre Geschichte den Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe. Nach der Begegnung sagte die Wahlfrankfurterin: “Hier sind tolle Kinder.” Denn sie hatte in ihren Gesichtern Mitgefühl und Respekt gesehen und in ihren Fragen aufrichtiges Interesse gespürt. Das jüdische Mädchen damals war nur zwei Jahre jünger als heute ihre Zuhörer im Saal, als es im Konzentrationslager Auschwitz knapp dem Tod entkam.